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Erwerbs­a­r­beit demokra­ti­sieren statt ignorieren!

12. Mai 2011

Einleitung

Verfolgt man die sozial- und wirtschaftspolitische Debatte, zeigt sich, dass in den sogenannten politischen Eliten weitgehend Einigkeit besteht. Ihrer Auffassung nach gibt es keine grundlegende politische Alternative zum aktuell eingeschlagenen politischen Kurs der Bundesregierung. Der Streit zwischen Bundesregierung und der Opposition aus Union und FDP geht um einzelne Regelungen, nicht aber um die Grundausrichtung. Die Maßnahmen der Agenda 2010 seien möglicher Weise hart, letztlich aber unabwendbar. Um den Sozialstaat zu bewahren, müssten seine Auswüchse beschnitten werden, heißt es zwar regierungsamtlich.

Letztlich bestreiten aber auch Regierungsvertreter nicht, dass es um anderes geht, nämlich den wettbewerbskonformen Umbau der Sozialsysteme. Während dem Sozialstaat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Aufgabe zukam, das Konkurrenzprinzip der Marktwirtschaft abzumildern, geht es der „aktivierenden Sozialpolitik“ darum, die Konkurrenz noch zu beflügeln. Dies zeigt sich auch an der arbeitsmarktpolitischen Gesetzgebung der letzten Jahre, welche unter dem Stichwort „Hartz“ Eingang in die politische Debatte gefunden hatte. Sie ist durch drastische Leistungskürzungen und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln gekennzeichnet. Letztlich wird ein Lohnersatzleistungssystem mit Bedürftigkeitselementen durch ein „Fürsorgesystem“ ersetzt, dass viele Menschen zwingt, nahezu jede Arbeit anzunehmen. Dabei geht es zwar auch um Kosteneinspaarungen, aber die eigentliche Zielrichtung besteht darin, Druck auf die derzeit lohn- bzw. gehaltsabhängig Beschäftigten zu verstärken und das Lohniveau insgesamt zu senken.

Dies zeigt, dass ein gemeinsames, objektives Interesse von abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen an einer Ausgestaltung des Sozialstaates besteht, die nicht dazu führt, das Erwerbslose gezwungen sind, die Preise für die Ware Arbeitskraft zu drücken. Umgekehrt besteht – wie noch zu zeigen sein wird – auch ein objektives gemeinsames Interesse an einer günstigen Verteilungsposition der Lohn- und Gehaltsabhängigen.

Um diese gemeinsamen Interessen in gemeinsame Politik umsetzen zu können, bedarf es der Klärung, ob und in welchem Umfang die in Teilen der Erwerbsloseninitiativen diskutierte Forderung nach einem Existenzgeld zielführend ist. Dies um so mehr, als dass diese Forderung mit weitreichenden emanzipativen gesellschaftspolitischen Zielstellungen unterfüttert ist.

Insgesamt berührt die Forderung nach Existenzgeld strategisch bedeutsame Fragen zum Verhältnis der Lohnarbeit zur Arbeit schlechthin sowie zur Rolle der Primär- im Verhältnis zur Sekundärverteilung. Letztlich geht es darum, wie und mit welchen gesellschaftlichen Akteuren die Profitlogik zurückgedrängt und letztlich aufgehoben werden kann.

Im Folgenden geht es zum einen darum, sich an der Forderung nach Existenzgeld und den dieser Forderung zugrunde liegenden Konzepten abzuarbeiten. Dabei werden zwar auch gemeinsame praktische Anknüpfungspunkte aufgezeigt, es wird aber auch zutage treten, dass sich – spätestens bei der praktischen Umsetzung – antikapitalistische Konzepte und neoliberales Gedankengut mischen und manche Elemente der Forderungen besser bei der Zukunftskommission Bayern/Sachsen und der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände aufgehoben sind, als in Arbeitsloseninitiativen.

Allerdings werden sich die Ausführungen nicht auf eine reaktive Kritik gegenüber der Existenzgeldforderung beschränken, sondern darüber hinaus verdeutlichen, wo strategische Ansatzpunkte liegen, um das kapitalistische Profitprinzip zurückzudrängen und Selbstbestimmung der Menschen auszubauen.

Agenda 2010: Angriff auf die Arbeit­neh­me­rinnen und Arbeit­nehmer

Die Verkündung der Agenda 2010 im Frühjahr 2003 stellte keinen Bruch mit der bisherigen Politik von Rot/Grün dar. Bereits in der ersten Wahlperiode wurde eine „Rentenreform“ ins Werk gesetzt, die das Rentenniveau (Eckrentner mit 45 Versicherungsjahren) schrittweise von etwa 70 Prozent auf ungefähr 64 Prozent (alte Berechnungsmethode) absenkte und die Berufsunfähigkeitsrenten für die jüngeren Jahrgänge abschaffte. Auch die Vorschläge der Hartz-Kommission lagen bereits vor. Versprochen war die Halbierung der Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren. Das Rezept waren ebenfalls bekannt: Umwandlung regulärer Beschäftigung in prekäre, nämlich Leiharbeit, Ich-Ags, Mini-Jobs, Midijobs, befristete Arbeit sowie Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen.

Mit der Agenda 2010 wurde diese Politik nochmals zugespitzt: Die Hartz-Kommission wurde übertroffen, indem sich zu den individuellen Leistungskürzungen noch „kollektive“ hinzugesellten (Gesetz für Reformen am Arbeitsmarkt, d.h. ab Februar 2006 die drastische Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf gewöhnlich 12 Monate, maximal 18 Monate). Das Rentenrecht wurde weiter verschärft, beispielweise durch Implementierung des Nachhaltigkeitsfaktors in die Rentenformel. Hinzu trat die Gesundheitsreform, verabschiedet durch eine faktische große Koalition, die die Zuzahlungen erhöhte, den Leistungskatalog beschnitt (insbesondere Zahnersatz und Krankengeld) und Regelungen der privaten Krankenversicherung (Kostenrückerstattungsmodelle, Bonusregelungen) auf die gesetzliche übertrug. Ergänzt wurde dieser Horrorkatalog durch Veränderungen beim Kündigungsschutz (erleichterte Mehrfachbefristung Älterer, sowie erleichterte Nichteinbeziehung von Leistungsträgern bei der Sozialauswahl).

Bei diesen Maßnahmen handelte es sich, vom Kündigungsschutzrecht abgesehen, in erster Linie um sozialrechtliche Veränderungen, die aber auf das (Lohn-)Arbeitsverhältnis zielten. Das zentrale Motiv lag in der Entlastung der Arbeitgeber. Die Arbeitskosten sollten gedrückt werden, angeblich um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies sollte auf zwei Wegen geschehen. Zum ersten ging es darum, die sogenannten Lohnnebenkosten als Bestandteil der Arbeitskosten zu senken. Zum zweiten sollte die „Reservearmee“ gefügiger gemacht werden, um den Druck auf den regulären Arbeitsmarkt zu erhöhen.

Um diese Ziele zu erreichen war die Politik offensichtlich bereit, mit tragenden Strukturprinzipien des Sozialstaates zu brechen: Die paritätische Finanzierung ist weder in der Renten-, noch in der Krankenversicherung gewährleistet. Das Prinzip der Lebensstandardsicherung ist in der Alterssicherung zurückgedrängt und spielt bei der Arbeitslosenversicherung kaum noch eine Rolle. Auch in der Krankenversicherung werden verbliebene sinnvolle Strukturen (Solidarprinzip) zunehmend in Frage gestellt. Der Solidargedanke erhält immer weniger Relevanz.

Zur Zeit tragen die Gewerkschaften ihre Alternativkonzepte in die Öffentlichkeit: Für eine solidarische Einfachsteuer, die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung und eine offensive, beschäftigungsfördernde Wirtschafts- und Arbeitszeitpolitik. Diese, im Rahmen des Arbeitnehmerbegehrens vorgetragenen, Forderungen richten sich primär ebenfalls an den Gesetzgeber, zielen aber ebenso auf die Gestaltung der Lohnarbeit.

Das Lohna­r­beits­ver­hältnis bleibt im Kapita­lismus dominant

Lohnarbeit als zentrale Kategorie

Für einen Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist die Erwerbsarbeit von zentraler Bedeutung. Dies zum einen, weil die Art und der Umfang der Erwerbsarbeit Grundlage für die eigenen materiellen Lebensbedingungen sind. Zum zweiten, weil die Erwerbsarbeit eine Basis für die Entfaltung sozialer Beziehungen ist. Zum Dritten leiten viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren sozialen Status aus ihrer Erwerbsarbeit ab. Dies haben sie mit vielen Erwerbslosen gemein, die ihre Arbeitslosigkeit nicht nur als Entbehrung von Geld erfahren, sondern auch Empfindungen hegen, von dieser Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden. Nun mag man die mangelnde kapitalismuskritische Sicht der Betroffenen beklagen, es wäre aber eine idealistische Herangehensweise, ihnen einfach nur eine andere Betrachtungsweise nahe zulegen. Nach dem Motto von Helmut Kohl, man müsse den Müttern an Heim und Herd nur lange genug ihre Leistung vergegenwärtigen, die sie für Familie und Vaterland erbringen, dann werden sie schon zu Frieden sein. Dass das Selbstwertgefühl zu einem bedeutendem Teil der Lohnarbeit entspringt, ist nicht Ausdruck einer falschen Sichtweise, sondern Ausdruck der Dominanz der Lohnarbeit im Kapitalismus. Diese Dominanz ideologisch hinweg zu definieren, ohne die materiellen Grundlagen zu verändern, ist so tauglich, wie das Waldsterben zu verbieten, ohne den Schadstoffausstoß zu verringern.

Auch die Rede von der „minoritären gesellschaftlichen Gruppe der Vollzeiterwerbsarbeiter“ vermag die tatsächliche Dominanz der Lohnarbeit nicht zu erschüttern: Wer seinen Lebensunterhalt nicht selbst zu erwerben vermag, wer arbeitslos ist, Rente oder Sozialhilfe bezieht oder von Kapital- oder Immobilieneinkünften lebt, lebt zwar nicht von der eigenen Erwerbsarbeit, aber von der Erwerbsarbeit anderer. Hinzu kommt, dass Lohnarbeit nicht nur von Vollzeitarbeitnehmern, sondern auch von prekär Beschäftigten erbracht wird. Maßgeblich ist im Übrigen nicht der rechtliche Status als „Arbeitnehmer“, sondern der faktische. D.h. Scheinselbstständige müssen auch dann in die Betrachtung einbezogen werden, wenn der Gesetzgeber ihnen „mangels Beweisen“ den Status der Selbstständigkeit zuerkennt.

Anhaltende Massenarbeitslosigkeit in nahezu allen kapitalistischen Staaten sowie der mit ihr einhergehende Strukturwandel haben die alte Diskussion, ob dem Kapitalismus die Arbeit ausgehe, beflügelt. Ein Teil der Existenzgeldbefürworter entlarvt die Produktivitätsentwicklung als ursächlich. Zudem würde jede Forderung nach Wachstum das Problem weiter verschärfen und sich die Forderung nach Vollbeschäftigung als Illusion erweisen. Diese Position ist weder empirisch noch theoretisch haltbar. Vergegenwärtigt man sich die Sprünge in der Produktivitätsentwicklung, allein im letzten Jahrhundert, dann müsste die tatsächliche Arbeitslosigkeit um ein vielfaches höher liegen. Auch müsste die Arbeitslosigkeit in Ländern mit geringerer Produktivitätssteigerung niedriger sein. Beides ist nicht der Fall. Die Beschäftigungsquoten sind zum Teil sogar gestiegen. Ursache für die Arbeitslosigkeit im Kapitalismus ist nicht die Rationalisierung, sondern maßgeblich die wachsende Schere zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung und damit verbunden einer relativen Überproduktion im Verhältnis zur Nachfrage. Da es sich hierbei nicht um gottgegebene Konstanten handelt, sind diese Faktoren politisch beeinflussbar. Wer dies leugnet und Beschäftigungspolitik im Kapitalismus zur Unmöglichkeit erklärt, befindet sich als Verfechter des Existenzgeldes bei „tabulosen Denkern“ wie Walther Riester oder der Zukunftskommission Bayern/Sachsen.

Zum Verhältnis von Primä­r­ver­tei­lung und Sekun­dä­r­ver­tei­lung und deren Wechsel­wir­kungen

Der Sozialstaat in Deutschland hatte nach 1945 zwei wesentliche Funktionen. Zum einen sollte er Kräften, die eine weitergehende Gesellschaftsveränderung anstrebten, den Wind aus den Segeln nehmen. Diese Funktion wohnte ihm modifiziert auch noch inne, als der gesellschaftsverändernde Impetus abgeebbt und die konservative Restauration und das mit ihr einhergehende Wirtschaftswunder seinen Lauf nahmen. Es galt immer noch – bis in die 80er Jahre – die sozialpolitische Überlegenheit des Kapitalismus über den Sozialismus zu dokumentieren und mögliche Störfaktoren, z.B. die Gewerkschaften, einzubinden.

Zum anderen war das Bedürfnis nach Regulierung und Abmilderung der ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen real. Ausdruck dieses Bestrebens war der schrittweise Ausbau des Sozialstaates, dessen Errungenschaften nun – seit Mitte der Neunziger Jahre zur Disposition stehen.

Verfolgt man nun die aktuelle sozialpolitische Debatte, dann fällt auf, dass der Ruf nach Einschnitten der sozialen Sicherungssysteme immer dann am lautesten wird, wenn sie am dringendsten gebraucht werden. Der Anteil der Sozialausgaben, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, beläuft sich seit Mitte der 70 Jahre auf knapp einem Drittel. Obwohl seit dem die Arbeitslosigkeit nach oben geschnellt ist und sich der Anteil der Rentner erhöht hat, ist von erhöhter Anspruchsmentalität der Leistungsbezieher die Rede. Ferner wird eine Kostenexplosion der Sozialsysteme beklagt und wir werden immer wieder mit einer Faulheitsdebatte konfrontiert, die in den siebziger Jahren so nicht geführt wurde.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass seit dem die Sozialleistungen für den einzelnen deutlich reduziert wurden, die Kosten stabil gehalten wurden und ein Großteil derjenigen, die erwerbslos sind, anders als in den 70er Jahren, wegen der riesigen Arbeitsplatzlücke, kaum Chancen haben, eine angemessene Arbeit zu finden.

D.h. die herrschende Sozialpolitik bemisst sich nicht nach sachlichen Notwendigkeiten, sondern nach gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Anders gesagt: Wird die Arbeiterbewegung in Betrieb, Unternehmen und Gesellschaft schwächer, sinkt die Lohnquote und steigt die Arbeitslosigkeit, so kann dies im Regelfall nicht über eine stärker umverteilende Sozialpolitik kompensiert werden. Denn in dieser Konstellation mangelt es an einem hinreichend schlagkräftigem Akteur, der dieses durchsetzen könnte. Letztlich beeinflusst nicht nur die Sozialpolitik die Verwertungsbedingungen des Kapitals, sondern die Verwertungsbedingungen des Kapitals haben mindestens den gleichen Einfluss auf die Sozialpolitik. Eine Strategie, die den Bezug zur Lohnarbeit und zur Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital aufgibt, ist daher zum Scheitern verurteilt.

Zum Verhältnis der Lohnarbeit zu anderen Bereichen der Arbeit

Zutreffend ist, dass ein quantitativ relevanter Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit außerhalb der unmittelbaren Lohnarbeit verrichtet wird. Zu nennen ist insbesondere ein großer Teil der Hausarbeit sowie der Erziehungsarbeit. Allerdings ist die klassische „Ein-Personen-Ernährer“-Familie auf dem Rückmarsch, Forderungen nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie werden lauter. Insgesamt geht der Trend dahin, Teile der Familienarbeit (Kindererziehung, Putzen, Pflege…) in Form der Lohnarbeit zu verrichten. Dieser Trend ist zu unterstützen. Er vollzieht sich derzeit aber nicht in erster Linie über reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, sondern über prekäre Arbeitsverhältnisse (z.B. Minijobs oder „Schwarzarbeit“). Gleichwohl bestimmt sich der quantitative Anteil und die Bedingungen der Verrichtung wiederum wesentlich aus den Bedingungen der Lohnarbeit. Derzeit ist die Beschäftigung von Haushaltshilfen für Durchschnittsverdiener finanziell nur attraktiv, wenn dies zu prekären Konditionen erfolgt. Wäre dieser Weg durch wirksame sozial- und arbeitsrechtliche Regelungen versperrt, hätte dies gleichzeitig positive Rückwirkungen auf das Lohnniveau. Umgekehrt würden sich die Beschäftigten unter solchen Bedingungen in diesen Sektoren besser stellen, als wenn sie auf die ausschließliche Verrichtung von Familienarbeit zurückgeworfen wären: Die „doppelte Ausbeutung“, nämlich sich mit dem Lohnarbeiter über die Verteilung des relativ kargen Lohns streiten zu müssen, weicht der „einfachen“. Insoweit bleibt die Befürchtung der Bundesarbeitsgruppen, dass dadurch, dass solche Arbeiten in Lohnarbeitsverhältnisse gezwungen werden, die „geschlechtsspezifische Arbeitsteilung festgeschrieben“ würde, nicht nachvollziehbar. Zutreffend ist, dass die Arbeitswelt patriarchalisch geprägt ist, patriarchalischer aber geht es tendenziell in der Familie zu.

Die (sich zum Teil wider­spre­chenden) Vorschläge zum Existenz­geld

Höhe des Existenz­geldes

Im vorliegenden Text von Harald Rein ist von einer Höhe des Existenzgeldes die Rede, die exklusive Wohnkosten 800 € monatlich beträgt. Demgegenüber beträgt der geplante Regelsatz des „Arbeitslosengeld II“ 345 € monatlich (Ostdeutschland 331 €) für Ledige und sieht für vormalige Arbeitslosengeldbezieher (im ersten Jahr des Bezuges) noch einen Zuschlag von maximal 160 € vor. Unabhängig von den konkreten Regelungen zur „Bedürftigkeit“ kann hinsichtlich des Alg II, bezogen auf das Niveau festgehalten werden, dass dieses hinter den bisherigen Definitionen des soziokulturellen Existenzminimums zurückbleibt. Dies gilt für die bisherige Entkoppelung von der Lohnentwicklung, bereits im Rahmen der Sozialhilfe, die Pauschalierung von besonderen Bedarfen im Rahmen des Regelsatzes und die Anrechnung von Kindergelderhöhungen. Die Verfechter der Forderung nach Existenzgeld haben daher recht, wenn sie betonen, dass das Existenzminimum höher zu definieren ist, als dies derzeit geschieht. Wie das soziokulturelle Existenzminimum zu definieren ist, ist allerdings nicht nur eine Frage, die sich an die Existenzgeldbefürworter richtet, sondern eine Frage, die auch im Rahmen des klassischen Steuer- und Sozial(hilfe)rechtes eine Rolle spielt. Hier muss eine gesellschaftspolitische Debatte geführt werden.

Verhältnis zu bisherigen Sozial­leis­tungen und Sozial­sys­temen

Diffus bleibt bei den Protagonisten der Forderung nach Existenzgeld das Verhältnis zu den bisherigen Sozialsystemen. Heißt es einerseits, durch das Grundeinkommen würden die bisherigen Sozialsysteme ersetzt (Rein, Textfassung S. 3 unten), geht es anderseits (Rein, aaO, S. 5 oben) darum, Existenzgeld und Versicherungsleistungen miteinander zu verbinden. Im gleichen Kontext wird dann allerdings die „Entkoppelung von Arbeit und Einkommen“ gefordert, um die „minimale Absicherung gegen Lebensrisiken“ durch die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ zu ersetzen.

Natürlich kann man grundsätzlich gegen das Äquivalenzprinzip in der Renten- und Arbeitslosenversicherung einwenden, dass es bestehende Ungerechtigkeiten in die sozialen Sicherungssysteme transportiere. Konkret wurde dieses Argument aber missbraucht, um die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen und einen großen Teil der Menschen dem schlechteren Sicherungsprinzip des Alg II zu unterwerfen. Natürlich sind grundsätzlich andere, primär steuerfinanzierte Modelle sozialer Sicherung denkbar. In der aktuellen Debatte zielen sie aber auf eine Entlastung der Arbeitgeber und die Senkung der sozialen Standards. Wer zum heutigen Zeitpunkt das Äquivalenzprinzip in der Renten- und Arbeitslosenversicherung zur Disposition stellt, spielt mit dem Feuer. Alg II ist das Lehrbeispiel.

Take-Half-Regelung

Einige der Vertreterinnen und Vertreter der Existenzgeldforderung kombinieren diese mit der sogenannten „take-half“-Regelung. Während die Existenzgeldforderung darauf zielt, den Betroffenen ein menschenwürdiges, soziokulturelles Existenzminimum zu gewährleisten, geht es bei der „take-half“-Regelung um anderes: Alle Menschen erhalten, unabhängig davon, ob sie Großaktionär sind oder prekär beschäftigte Arbeitskraft das Existenzgeld und müssen gleichzeitig die Hälfte ihres sonstigen Einkommens, unabhängig ob es sich um Kapitalerträge oder Einkommen aus Arbeitsleistung handelt, abführen. Im Bereich der Niedrigverdiener läuft diese Forderung auf die Subventionierung von Arbeitseinkommen hinaus und erinnert an Kombilohnmodelle, wie sie von F.W. Scharpf vorgedacht und von verschiedenen Institutionen (BDA, FES) modifiziert in ihren Forderungskatalog aufgenommen worden sind. Solche Modelle subventionieren letztlich die Zahlung von Niedriglöhnen und dienen der Ausweitung des Niedriglohnsektors. Sie sind bereits aus diesem Grund inakzeptabel.

Durch­set­zungs­chancen für das Existenz­geld

Die Forderung nach Existenzgeld, die von Teilen der Arbeitsloseninitiativen aufgestellt wird, ist zwar nicht in aller Munde, Elemente werden aber in der Tat in der öffentlichen Debatte aufgegriffen. Leider sind es zumeist nicht die fortschrittlichen, emanzipatorischen Elemente, sondern diejenigen, die sich durch Arbeitgeberverbände instrumentalisieren lassen. Die Forderung nach Kombilöhnen und die nach der „Entbürokratisierung“ der Sozialsysteme, welches ihre Abschaffung beinhaltet, steht derzeit hoch im Kurs. Die Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums bleibt demgegenüber wirklich durchzusetzende Aufgabe.

Politische Konse­quen­zen: Lohnarbeit demokra­ti­sieren, das Recht auf Arbeit durchsetzen, Sozial­stan­dards verbessern!

Die Lösung der Probleme besteht nicht darin, sich jenseits der Lohnarbeit ein Paradies aufzubauen. Vielmehr liegt ein wesentlicher Etappenschritt darin, die heutigen Arbeitverhältnisse menschenwürdig zu gestalten und stärkerer demokratischer Teilhabe zugänglich zu machen.

Dies erfordert die Verteidigung und den Ausbau der sozialstaatlichen Errungenschaften von der Tarifautonomie über die betriebliche und Unternehmensmitbestimmung bis hin zum Arbeits- und Sozialrecht. Dabei steht die Verteilungsfrage im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Erfolge können hier nur errungen werden, wenn es zum einen gelingt, Gewerkschaften im Betrieb zu stärken und zum anderen gleichzeitig die gesellschaftliche Dimension der Auseinandersetzung zu verdeutlichen. Hierzu muss die Bündnisarbeit intensiviert und das betriebliche Handeln in eine gesellschaftliche Perspektive eingebunden werden. Das erfordert auf der theoretischen Ebene ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept, das Tarifpolitik, Steuer- und Sozialpolitik aufeinander abstimmt. Hinzukommen müssen praktische Erfolge im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Denn sie stärken die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten in Tarifauseinandersetzungen und geben Raum für gesellschaftliche Debatten, die heute mit Verweis auf den Standort Deutschland erstickt werden.

Fazit

Zweifelsohne hat die Gestaltung der Sozialpolitik erhebliche Rückwirkungen auf die Arbeitsverhältnisse. Aus gewerkschaftlicher Sicht besteht daher ein unmittelbares Interesse daran, repressive Sozialpolitik und „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ zurückzudrängen. Insoweit bestehen hinsichtlich der kurzfristigen Zielsetzungen der Existenzgeldbefürworter und gewerkschaftlicher Zielsetzungen Anknüpfungspunkte, die für gemeinsame Aktivitäten genutzt werden müssen.

Den Kapitalismus nicht als Endpunkt der Geschichte zu begreifen und gemeinsam über Alternativen nach zu denken, dürfte eine weitere lohnende Tätigkeit sein. Hier wird allerdings anhand der Existenzgeldforderung schnell deutlich, dass sehr unterschiedliche strategische Sichtweisen hinsichtlich der Bewertung der Rolle der Lohnarbeit bestehen und umfassende Auseinandersetzungen erforderlich sind, wenn es gelingen soll, gemeinsame, konsistente Alternativen zur aktuell betriebenen Politik zu präsentieren.

Axel Gerntke (IG Metall) und Dr. Sascha Liebermann (Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“) diskutieren auf Einladung der Humanistischen Union Frankfurt am 26. Mai 2011 über das bedingungslose Grundeinkommen.

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