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Die neue Gretchen­frage

13. März 2008

Hat der Glaube oder haben die Menschenrechte Vorrang?

Viele Muslime wissen nicht, wie sie sich entscheiden sollen.

Aber auch Christen plädieren nicht immer für Toleranz

Frankfurter Rundschau vom 13.03.2008

Probleme mit Muslimen basieren auf der Anmaßung, die einzig wahre Religion zu vertreten. Daraus leiten sich Absolutheitsansprüche und Ausgrenzungstendenzen ab, welche aber auch dem Christentum eigen sind. Man findet in den theologischen Grundlagenschriften von Bibel und Koran keineswegs nur Plädoyers für Freiheit und Toleranz, sondern auch die Diffamierung von Anders- und Nichtgläubigen. Beide Glaubens-richtungen traten als Religionen des Friedens und der Liebe auf, gleichwohl war deren Geschichte häufig nicht von diesen Prinzipien geprägt. Dafür sprechen auf der einen Seite die frühen innerchristlichen Verfolgungen bis zur Unterstützung von Diktaturen im 20. Jahrhundert und auf der anderen Seite die ersten Eroberungsfeldzüge Mohammeds bis zur gegenwärtigen Diktatur im Iran. Dabei handelte es sich nicht um eine Abkehr von den behaupteten„eigentlichen Werten“ der jeweiligen Religion. Vielmehr waren die historischen Folgen kompatibel mit dem exklusiven Anspruch auf den einzigen Weg zum Heil. Aufklärung ohne Wirkung Will man diesen verbindlich auf den Geltungsbereich von Gesellschaft und Staat übertragen, besteht ein Spannungsverhältnis zu Demokratie und Grundrechten.
Durch die Ideen der Aufklärung und der mit ihr verbundenen Religionskritik, durch die Demokratisierung der Gesellschaften und dem damit verbundenen Pluralismus verloren die Kirchen in den letzten vierhundert Jahren an gesellschaftlicher und politischer Macht. Wenn auch spät bekannten sie sich seit Mitte des 20. Jahrhundert s00 (überwiegend) zu den Wertvorstellungen von Demokratie und Menschenrechten. Zwar lässt sich in Deutschland nicht wie in den USA eine konsequente institutionelle Trennung von Kirche und Staat ausmachen. Gleichwohl reduziert sich doch die Rolle des institutionalisierten Christentums weitgehend auf den Stellenwert einer (allerdings staatlich- bevorzugten) Interessenvertretungsorganisation unter vielen. In der islamischen Welt hatte sich bereits im zeitlichen Vorfeld der europäischen eine Art islamische Aufklärung herausgebildet. Die Protagonisten derartiger Auffassungen, welche der menschlichen Vernunft einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert zuweisen wollten, konnten sich allerdings nicht durchsetzen. So blieb die Religion eine zentrale identitätsstiftende Größe, ohne in ihren Annahmen einer kritischen Prüfung ausgesetzt zu werden. In der Folge stagnierte die gesellschaftliche Dynamik, stand doch der religiöse Glaube weiterhin über der menschlichen Vernunft. Darin kann ein, aber nicht der einzige Grund für den Rückfall der arabischen gegenüber der westlichen Welt gesehen werden. Dies erklärt auch, warum die Demokratisierungswellen des 20. Jahrhunderts an den islamischen Ländern vorbeiliefen. Ehemalige Kolonialländer in anderen Regionen wandelten sich viel stärker. Besteht ein Gegensatz von Demokratie und Islam? Die Antwort auf diese Frage lautet „ja“ und „nein“ zugleich. Das „Ja“ erfolgt, weil die Auffassung von einem Islam als ganzheitlicher Lebensweise für eine Gesellschaft Grundrechten, Pluralismus und Säkularität entgegensteht. In einem solchen Sinne wird die Gottessouveränität über die Volkssouveränität gestellt. Das Fehlen von Aufklärung und Selbstkritik gegenüber der eigenen Religion und die starke Verschmelzung von Glaube und Rechtsordnung kommen als weitere Gesichtspunkte hinzu.

Ethisches Selbstverständnis

DieAntwort „Nein“ erfolgt,weil es keinen einheitlichen Islam gibt und er die unterschiedlichstenDeutungen gestattet. Insofern bildeten sich in einigen islamisch geprägten Ländern strukturelle Ansätze für demokratische und rechtsstaatliche Systeme, beispielsweise in Indonesien oder der Türkei.Weitaus bedeutsamer sind die Muslime in westlichen Ländern.
Sie leben ihren individuellen Glauben bei gleichzeitigem Bekenntnis zu Demokratie und Rechts- staatlichkeit. Hierbei zeigt sich erneut die Ambivalenz der Religionen im Allgemeinen und des Islam im Besonderen: Letzterer ist sowohl mit der Demokratie als auch mit demIslamismus kompatibel, da es in Geschichte wie im Koran Ansatzpunkte für Deutungen in beide Richtungen gibt. Jede dieser Interpretationen blendet notwendigerweise anders lautende Aspekte aus und verfährt
in der jeweiligen Islam-Deutung einseitig und selektiv. Die dabei deutlich werdende Ambivalenz unter den Muslimen der Gegenwart lässt sich bei den Christen in der historischen Gesamtschau ebenfalls ausmachen. Dies hängt mit der – positiv formuliert – Vielfalt oder – negativ formuliert – mit der Widersprüchlichkeit der Religionen zusammen. Inwieweit man eine solche Lehre zur normativen Grundlage des eigenen ethischen Selbst-verständnisses macht,muss jeder und jede selbst entscheiden. Die Präsenz von gläubigen Muslimen als demokratische Staatsbürger belegt die Kompatibilität von Demokratie und Islam. Welche Konsequenzen ergeben sichf ür Muslime hinsichtlichder Integration in einer offenen multireligiösen Gesellschaft? Da die Religionsfreiheit als Menschenrecht ein tragender Bestandteil des demokratischen Verfassungsstaates ist, müssen alle Artikulationsformen des islamischen Glaubens geduldet werden – sofern sie nicht anderen grundlegenden Geboten und Rechtenwidersprechen. Hierbei können selbst dogmatische und orthodoxe Deutungen des Islam Toleranz erfahren, so lange daraus nicht Handlungen gegen Menschenrechte und Rechtsprinzipien von der Frauenunterdrückung bis zur Gewalt folgen. Auch die Assimilation an die kulturellen Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft stellt keine Notwendigkeit für die individuelle Anerkennung in einer pluralistischen Gesellschaft dar. Sozialordnungen können das Prinzip „Einheit in Vielfalt“ aber nur als gelebte Wirklichkeit praktizieren, wenn es eine allgemein verbindliche Basis von Normen im Sinne eines nicht-kontroversen Sektors oder überlappenden Konsens gibt. Nur bei der Akzeptanz bestimmter Regeln und Werte ist die Koexistenz unterschiedlicher ethischer, kultureller, politischer, religiöser oder sozialer Tendenzen möglich. Zu den Minimalbedingungen gehören die Kenntnis der Landessprache, die Akzeptanz der Grund- und Menschenrechte sowie die Einhaltung von Recht und Gesetz. Gerade der mittlere Gesichtspunkt bildet den zentralen Kern der unabdingbaren Normen und ist kultureller und religiöser Identität übergeordnet. Die zentrale Frage, die sich somit nicht nur für Muslime stellt, lautet: Haben die Glaubensinhalte oder die Menschenrechte Vorrang? Vielleicht bildet dieser Satz die neue Gretchenfrage für das Leben in der multireligiösen Welt des 21. Jahrhunderts.

Armin Pfahl-Traughber lehrt an der Fachhochschule
des Bundes in Brühl und als Lehrbeauftragter an der Universität Bonn
und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze und Bücher zu den
Themen Antisemitismus, Extemismus, Ideengeschichte, Islamismus,
Terrorismus und Zeitgeschichte.

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