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Das Geschäft mit der Nächs­ten­liebe

01. Juni 2006

Die kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen sind längst Riesenunternehmen und der christliche Anspruch nur Fassade. Aus: Frankfurter Rundschau vom 01.06.2006.

Das „Religiöse“ sei wieder stark im Kommen, liest man allerorten, und als die Bundesfamilienministerin van der Leyen am 20. April in Berlin das “ Bündnis für Erziehung“ vorstellte, wurde sie dabei von einer evangelischen Bischöfin und einem katholischen Kardinal sekundiert. Begründet wurde diese kirchliche Flankierung mit ihrem “ dichten bundesweiten Netz an Betreuungs- und Bildungseinrichtungen, (die) auch in besonderer Weise soziale und moralische Aspekte (verknüpfen). Im Bereich der Kindergärten in freier Trägerschaft stellen die kirchlichen Träger (Caritas und Diakonie) insgesamt 72,3 Prozent der Plätze“ , so die Ministerin. Ein schönes Beispiel, wie man mit richtigen Zahlen Nebelkerzen werfen kann. Es “ fehlte“ zum einen die Information, dass die freien Träger nur rund 60 Prozent aller Kita-Plätze stellen, und zum anderen wur-den die “ freien Träger“ auf die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege begrenzt, so dass die richtige Information gewesen wäre: Die beiden kirchlichen Träger stellen gemeinsam 37,5 Prozent aller Kita-Plätze in Deutschland. Also nur etwas mehr als ein Drittel. Dazu kommt dann noch durch die Auswahl der Bündnispartner die unverhohlene Absage an ein grundgesetzkonformes Erziehungsverständnis. Christliche Partikularwerte und Interessen werden gegen die weltanschauliche Neutralität des Staates und die universalistischen Grundwerte in Stellung gebracht. Das breite Spektrum der Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft (z.B. Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime, Sozialstationen und Beratungsstellen) suggeriert einen hohen finanziellen Mitteleinsatz der Kirchen. Die Behauptung der besonderen Verknüpfung von sozialen und moralischen Aspekten unterstellt eine exklusive normative Qualität gegenüber den nicht-konfessionellen Trägern. Ein Schelm, der Böses bei solchen selbstlosen Unterstellungen denkt. Doch wie ist es wirklich? Ist die Betreuung in kirchlichen Pflegeheimen besonders gut? Fallen kirchliche Einrichtungen durch besondere Berücksichtigung der Menschen- und Bürgerrechte auf? Führt die christliche Nächstenliebe zu entsprechender Rücksichtnahme bei den finanziellen, physischen und psychischen Belastungsgrenzen der MitarbeiterInnen?

Vorurteile im Sozialbereich

Der Gesundheits- und Sozialbereich in Deutschland scheint eine Art Terra incognita zu sein, in dem viele von uns zwar einzelne Einrichtungen kennen, jedoch Ein- und Überblick nicht vorhanden sind. Auf dem Boden dieser Unkenntnis können sich Stereotypen und Vorurteile erhalten, die mit der heutigen Realität nur noch wenig zu tun haben. 1961 wurde in das Jugendhilfegesetz ein kurzer Absatz eingefügt, der den so genannten “ freien Trägern“ den Vorrang vor den staatlichen Trägern einräumt. Dieses “ Subsidiaritätsprinzip“ wurde insbesondere von der organisierten katholischen “ Nächstenliebe“ (Caritas) und der evangelischen “ Brüderlichkeit“ (Diakonie) genutzt, um zum größten privaten Arbeitgeberverbund in Europa aufzusteigen. 1960 hatten Caritasverband und Diakonisches Werk zusammen rund 300 000 MitarbeiterInnen. Die aktuellen Zahlen belaufen sich auf zusammen rund 950 000 Beschäftigte. Dazu kommen noch rund 300 000 weitere Mitarbeiter als Azubis, Honorarkräfte, Freiwillige des Sozialen Jahres etc., die von den Verbänden selber nicht als Beschäftigte gezählt werden, da sie nicht hauptberuflich und unbefristet beschäftigt sind. Insgesamt sind es also zurzeit rund 1, 25 Millionen Menschen, die Lohn und Arbeit bei Caritas und Diakonie finden. Bereits für die offiziellen Mitarbeiterzahlen beider Wohltätigkeitsverbände gilt, dass jeder der beiden Organisationen für sich mehr Menschen beschäftigt als der Siemens-Konzern (426 000) oder der Daimler-Chrysler- Konzern (366 000) weltweit. Mit anderen Worten: Caritas und Diakonie sind unbekannte Giganten. Diese schnelle Vergrößerung der Mitarbeiterzahl hat die innere Struktur der Verbände und die Mentalität der Mitarbeiter stark verändert. Aus einer geringen Zahl Hauptamtlicher, die von vielen Ehrenamtlichen und Nonnen wie Diakonissen umgeben waren, sind nun professionelle Dienste geworden, in die sich die Ehrenamtlichen nur noch schwierig einbinden lassen. Nonnen wie Diakonissen gibt es zudem kaum noch. Wie es einmal eine Nonne sagte: “ Ja, wir gelten als katholische Einrichtung. Aber wir merken nichts mehr davon.“ Oder, wie andere Stimmen sagen: “ Wer bei der Kirche arbeitet, fällt vom Glauben ab.“ Untersuchungen verdeutlichen: Schraubt man das Schild am Eingang ab, wird inhaltlich nicht mehr deutlich, wer Träger der Einrichtung ist. Beide Organisationen setzen mittlerweile ein Finanzvolumen von jährlich insgesamt rund 45 Milliarden Euro um (z.B. Leistungsentgelte der Krankenkassen, der Pflegeversicherung oder private Bezahlung). Die vielfältige Arbeit von Caritas und Diakonie kommt vor allem dem Image der beiden Kirchen zugute: “ Die tun doch so viel Gutes.“ Hinsichtlich der Finanzierung dieser Einrichtungen darf die beständige Wiederholung: “ Die Kirche ist der Träger von Kindertagesstätten, Krankenhäusern, Altenheimen, etc.“ jedoch nicht täuschen, da in wesentliche Bereiche überhaupt kein Cent Kirchengeld fließt und die gesamten kirchlichen Zuschüsse für Caritas und Diakonie nur 1,8 Prozent von deren Gesamtkosten abdecken.

Nur wenig Geld aus Kirchensteuer

Die Frage dieser geringen Eigen-Finanzierung hat dabei zwei entscheidende Aspekte: 1. Die Glaubwürdigkeit des Trägers. Da die
meisten Menschen meinen, dass die Kirchen, wie sie es selber auch immer darstellen, die sozialen Einrichtungen überwiegend aus der Kirchensteuer finanzieren, würden (nach einer Umfrage der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, www.fowid.de) rund die Hälfte der Kirchenmitglieder aus der Kirche austreten, wenn die Kirchen diese Einrichtungen nur geringfügig finanzieren. Genau das ist jedoch die Realität. 2. Die Rechtmäßigkeit eines Besitzanspruchs. Artikel 140 des Grundgesetzes (in Verbindung mit Artikel 137,3 der Weimarer Reichsverfassung) privilegiert die Kirchen u. a. in der Weise, dass sie ihre eigenen Einrichtungen selbstständig verwalten. Wenn also ein Krankenhaus, oder ein Altenheim, oder eine Kindertageseinrichtung ohne einen Cent aus der Kirchensteuer finanziert werden – ist es dann noch eine eigene Einrichtung der Kirchen? Die selbstständige Verwaltung der sozialen Einrichtungen durch die Kirchen hat tagtägliche Bedeutung für viele Menschen, weil in den konfessionellen Einrichtungen ein “ Dritter Weg“ der Mitarbeitervertretung gilt (kein Betriebsrat, kein Streikrecht, keine Mitbestimmung oder Informationsrecht). Dadurch können grundlegende Bürgerrechte den MitarbeiterInnen verweigert werden! Begründung: Dienstgeber und Dienstnehmer sitzen im gleichen Boot der “ Glaubensverkündigung“ , das (vorgeblich) keine Gegensätze kennt. Der rechtfertigende Rückgriff auf den “ Tendenzschutz“ im Betriebsverfassungsgesetz kann nicht greifen, weil dieses Gesetz ausdrücklich keine Geltung für kirchliche Einrichtungen hat. Während bei der Caritas schon seit Jahrzehnten in den Klauseln der Arbeitsverträge unterschrieben wurden musste, dass man nach den Regeln der katholischen Kirche leben würde – alles andere bedeutete möglicherweise die fristlose Kündigung -, hatten es die evangelische Kirche und die Diakonie erheblich schwerer. Das heißt, bisher hatten sie keinen Erfolg, derartige „Loyalitätsrichtlinien“ für die MitarbeiterInnen in den Synoden durchzusetzen. Dafür wird jetzt Abhilfe geschaffen. Das bereits von der rot-grünen Bundesregierung formulierte Antidiskriminierungsgesetz, das dieser Tage vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, gibt den Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften das gesetzlich festgeschriebene Privileg, nach ihren eigenen ethischen Lehren „Loyalitätsanforderungen“
zu formulieren, die nicht als Diskriminierung gelten. Das bedeutet für die vielen MitarbeiterInnen beider Kirchen und bei Caritas wie Diakonie eine gesetzlich erlaubte Beschränkung der individuellen Rechte der freien Religionsausübung, der Berufswahl, der sexuellen Selbstbestimmung, der freien Partnerwahl und Lebensform also Diskriminierung auf Grund eines Bundesgesetzes, das behauptet, gerade das verhindern zu wollen. Dies ist ein besonders fatales Beispiel für den Abbau von Bürger und Menschenrechten. In Deutschland. Aktuell. Der Autor Carsten Frerk ist promovierter Sozialwissenschaftler und freier Publizist.
Er hat sich in den vergangenen Jahren intensiv darum gekümmert, etwas Licht in die undurchsichtigen Strukturen der Kirchen zu
bringen. Dazu hat er unter anderem zwei Sachbücher veröffentlicht: “ Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland“ sowie „Caritas und Diakonie in Deutschland“ . Frerk gilt als einer der wenigen Experten außerhalb der Kirchen. Zur Zeit ist er Leiter der „Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland“ .

Carsten Frerk wird in der Reihe “ Leitkultur Menschenrechte“ von Humanistischer Union und Frankfurter Rundschau am heutigen
Donnerstag, 1. Juni, ab 20 Uhr im Café Wiesengrund im Finkenhof, Finkenhofstr. 17, Frankfurt , einen Vortrag hierzu halten.
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